Dunant brauchte dringend mehr Land und zusätzliches Wasser für seine Mühlen. Im Frühsommer 1859 machte er sich auf den Weg zu Napoleon III., weil er mit dem Herrscher Frankreichs direkt verhandeln wollte. Das war seine letzte Hoffnung. In Paris vernahm er, dass der Kaiser mit einem grossen Heer zu einem Befreiungskrieg in Oberitalien unterwegs war. Dunant beschloss, den Kaiser in Italien aufzusuchen. In der Tasche trug er das salbungsvolle Werk "Das wiederhergestellte Kaiserreich Karls des Grossen, oder das Heilige Römische Reich, erneuert durch seine Majestät Kaiser Napoleon III.". Er hatte es in aller Eile geschrieben, um den Herrscher über das französische Empire günstig zu stimmen. Nach mehrtägiger Fahrt in Pferdekutschen kam er todmüde in Castiglione delle Stiviere südlich des Gardasees an.
Dort bot sich dem 31-Jährigen ein grauenhaftes Bild. An Strassenrändern, auf Plätzen und in Kirchen lagen Körper an Körper verwundete Soldaten in verschiedensten Uniformen. Auf holprigen Karren wurden ohne Unterbruch weitere lebende und tote Opfer abtransportiert. Dunant erlebte das Grauen in seiner ganzen Brutalität, das der grösste Waffengang seiner Zeit gefordert hatte und stellte seine ursprünglichen Ziele auf die Seite. Er überwand seinen Schock und engagierte sich, ohne lange zu überlegen. Er half, Schwerverwundete aufzuladen und verteilte den Rest seines Proviants und seiner Zigarren. Er sprach Mut zu und liess Sterbende seine Nähe spüren. Am folgenden Morgen schickte er seinen Kutscher nach Brescia (I), um Verbandsmaterial, Lebensmittel und Raucherwaren einzukaufen. Er selber kümmerte sich wieder um liegengelassene Opfer und um Sterbende, zerschnitt seine mitgebrachten Hemden zu Verbandstoff, wusch schmutzige Wunden aus und reichte Durstigen frisches Wasser. Professionelle Hilfe fehlte, deshalb forderte Dunant Einheimische zur Mithilfe auf. Mehrere Frauen, Kinder und Männer halfen mit. "Sono tutti fratelli" - wir sind alle Brüder - sagten sie zueinander. Sie versorgten alle Verwundeten gleich aufmerksam, egal aus welchem Land sie stammten und welcher Armee sie angehörten. Als Dunant erfuhr, dass die Franzosen österreichische Ärzte gefangen hielten, suchte er den französischen Herrscher auf. Gleichzeitig überbrachte er ihm die Lobesschrift. Die lehnte der Kaiser höflich ab. Immerhin gestattete er den österreichischen Ärzten rasch den Hilfseinsatz. Und zusammen mit Dunant praktizierten diese freiwilligen Samariter zum ersten Mal den Grundsatz, den später das Rote Kreuz überall auf der Welt anwandte und der bis heute gilt: Alle Kriegsopfer sind neutral und damit gleich zu behandeln. Zurück in Genf kümmerte sich Dunant um sein Algeriengeschäft und erreichte in wenigen Monaten die Zuteilung eines zweiten Wasserfalls und zusätzliches, leicht zu bewässerndes Land. Sein Freundeskreis kaufte Aktien für eine weitere halbe Million Franken. Dunant sah Algerien wieder in rosigem Licht. Doch in seinem Herzen nagte das Problem der Kriegsverwundeten. Er zog sich in seine Genfer Wohnung zurück und arbeitete fast zwei Jahre lang wie besessen an seinem Buch "Eine Erinnerung an Solferino".
Schlachtenbilder |
Lazarett | |||||||
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Dunants Route nach Solferino | ||
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